Das Bundesverfassungsgericht hatte sich in einem Beschluss vom 28.01.2019, 1 BvR 1738/16, mit der Abwägung von Kunstfreiheit und Allgemeinem Persönlichkeitsrecht zu beschäftigen. Zugrunde lag folgender Fall:
Eine Künstlerin malte ein Portrait eines jungen Mädchens mit kurzen Haaren und einem Verband um den Arm. Das Bild wurde „Rapunzel 4“ getauft (unklar ist der Verbleib von Rapunzel 1-3). Das betreffende Mädchen und deren Eltern hatten ihre Einwilligung zur Anfertigung dieses Portraits erteilt. Drei Jahre später verwendete die Künstlerin dieses Portrait in einer Ausstellung, die das Thema „Missbrauch und Gewalt an Kindern“ hatte. Na hoppla. Wenig überraschend waren die Eltern und das Mädchen hiermit nicht einverstanden, geschah die Anfertigung des Portraits doch in einem gänzlich anderen Kontext , und widerriefen die erteilte Einwilligung zur Verwendung des Portraits, und zwar nicht nur für die konkrete Ausstellung, sondern generell für jede weitere öffentliche Ausstellung.
Die Künstlerin beharrte auf weiteren Ausstellungen. Das Mädchen klagte hiergegen und bekam vor dem Amtsgericht und dem Landgericht recht. Die Künstlerin legte Verfassungsbeschwerde ein. Anders als die Vorinstanzen entschied das Bundesverfassungsgericht differenzierter: Die Persönlichkeitsrechte des Mädchens seien durch das Grundgesetz geschützt und auch vorliegend durch die Veröffentlichung im Rahmen der besagten Ausstellung verletzt. Gleichermaßen sei jedoch die Künstlerin in ihrer Kunstfreiheit verletzt – ebenfalls ein grundgesetzlich geschütztes Rechtsgut:
Von der Kunstfreiheit ist nicht nur das Anfertigen des Porträts, sondern auch die Ausstellung in der Öffentlichkeit erfasst. Die Kunstfreiheitsgarantie betrifft in gleicher Weise den „Werkbereich“ und den „Wirkbereich“ künstlerischen Schaffens. Nicht nur die künstlerische Betätigung, sondern darüber hinaus auch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks sind sachnotwendig für die Begegnung mit dem Werk als eines ebenfalls kunstspezifischen Vorgangs. Dieser „Wirkbereich“ ist der Boden, auf dem die Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG bisher vor allem Wirkung entfaltet hat […] Die Anerkennung von Kunst darf nicht von einer staatlichen Stil-, Niveau- und Inhaltskontrolle oder von einer Beurteilung der Wirkungen des Kunstwerks abhängig gemacht werden […].
Die Entscheidungen der Vorinstanzen, die es der Künstlerin untersagt hatten, das Portrait künftig generell auszustellen, gingen dem Bundesverfassungsgericht zu weit:
Nach diesen Maßstäben ist das Landgericht in der angegriffenenEntscheidung den Anforderungen der Kunstfreiheit nicht in jeder Hinsicht gerecht geworden. Zwar verletzt die Annahme, die Präsentation des Bildes im Rahmen einer Ausstellung zu den Themen Missbrauch und Gewalt sei nicht von der ursprünglich erteilten Einwilligung der Klägerin gedeckt und auch unabhängig hiervon nicht gerechtfertigt, die Kunstfreiheit nicht. Das Landgericht hat es jedoch versäumt, hinsichtlich des ohne jede Beschränkung ausgesprochenen Veröffentlichungsverbots die Auswirkungen der angegriffenen Entscheidung auf die Kunstfreiheit der Beschwerdeführerin den Auswirkungen auf das Persönlichkeitsrecht der Klägerin gegenüberzustellen und die widerstreitenden Grundrechte in praktischer Konkordanz möglichst weitgehend zur Geltung zu bringen.
en verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht wird die angegriffene Entscheidung jedoch, soweit das Landgericht der Klägerin einen Unterlassungsanspruch bezüglich jeglicher Veröffentlichung oder Verbreitung des streitgegenständlichen Bildes Dritten gegenüber zuerkennt. Das Landgericht verkennt, dass auch hinsichtlich des Umfangs des Unterlassungsanspruchs zwischen den Auswirkungen der angegriffenen Entscheidung auf die Kunstfreiheit der Beschwerdeführerin einerseits und den Auswirkungen auf das Persönlichkeitsrecht der Klägerin andererseits abzuwägen ist und die Grundrechte der Beteiligten möglichst weitgehend in praktischer Konkordanz zur Geltung zu bringen sind.
Dieser Verpflichtung ist das Landgericht nicht hinreichend nachgekommen. Dies wiegt umso schwerer, als die Beschwerdeführerin im Berufungsverfahren ausdrücklich geltend gemacht hatte, dass das Urteil des Amtsgerichts sie unverhältnismäßig stark in ihrer Kunstfreiheit beeinträchtige und ein Verbot des Ausstellens des Bildnisses in einem Kontext, der Assoziationen zu Missbrauch schaffe, vollkommen ausreichend gewesen wäre. Das Landgericht hätte nicht nur aus diesem Grunde die Auswirkungen eines umfassenden Ausstellungsverbots auf die Kunstfreiheit der Beschwerdeführerin (a) den Auswirkungen auf das Persönlichkeitsrecht der auf dem Gemälde abgebildeten Klägerin (b) gegenüberstellen und die widerstreitenden Interessen in einen verhältnismäßigen Ausgleich bringen müssen (c).
Die sich gegenüberstehenden Grundrechte „Kunstfreiheit“ und „Allgemeines Persönlichkeitsrecht“ beschränken sich also gegenseitig. Die Kunstfreiheit darf sich nicht einfach über den Schutz der Menschenwürde hinwegsetzen. Ein Portrait eines jungen Mädchens darf nicht in einen Kontext gerückt werden, der dazu geeignet ist, die Würde des Mädchens zu verletzen. Umgekehrt darf der Künstlerin aber nicht generell verboten werden, das Portrait auch weiterhin zu verwenden. Es muss stets der Kontext berücksichtigt werden, in dem eine Ausstellung des Portraits erfolgen soll.
Vielleicht fragt man als Künstler aber trotzdem mal nach, bevor man ein Portrait eines jungen Mädchens mit dem Themenkomplex Missbrauch und Gewalt an Kindern“ in Verbindung bringt.